Bühne in Konstanz
Talk in der Rosenau
Sie verwenden einen veralteten Browser. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser für mehr Sicherheit, Geschwindigkeit und die korrekte Darstellung unserer Seiten.
Literaten und Künstler als Vordenker
An der Wende zum 20. Jahrhundert strömten junge Talente in die Kaffeehäuser von Wien, München und Berlin. Mittellos, aber den Kopf voll weltbewegender Ideen trafen sie dort auf Gleichgesinnte. Gemeinsam wollten sie alles neu erfinden, Malerei, Theater, Literatur. Manch einer ahnte früh die große Katastrophe. Autor Dirk Liesemer beschreibt die Situation zum einen in einem Buch, zum anderen in diesem Titelbeitrag für das KWA-Unternehmensmagazin Alternovum.
Marienplatz München, zwischen 1890 und 1905 - Urheber unbekannt, gemeinfrei
München, 28. September 2024
Niemand erfasste die Atmosphäre im Kaffeehaus je treffender als der Wiener Schriftsteller Otto Friedländer. Der war vor gut hundert Jahren davon überzeugt, dass sich Sokrates im Café sicher wohlgefühlt hätte. Zwischen all den Fabulierern und Tagträumern wäre der antike Philosoph, der so leidenschaftlich gern diskutierte, kaum aufgefallen. Denn das Kaffeehaus sei, so war Friedländer überzeugt, "vielleicht der einzige Ort auf Erden, an dem das gelöste, witzige, phantasievolle, grüblerische, scharfsinnige, zynische Gespräch sich am längsten lebendig gehalten hat".
Wer an der Wende zum 20. Jahrhundert wissen wollte, wohin sich die Welt bewegt, der musste ins Kaffeehaus – ob es nun in Berlin, München oder Wien stand. Dort wurde debattiert und gestritten, es wurden Texte vorgetragen und alles kritisch hinterfragt, was die Leute am Nebentisch voller Inbrunst von sich gaben. Nirgends ging es dabei erregter zu als im „Café Größenwahn“, von dem praktischerweise nicht nur eines, sondern gleich drei existierten, obwohl sie alle offiziell anders hießen: nämlich „Café Griensteidl“ in Wien, „Café Stefanie“ in München und „Café des Westens“ in Charlottenburg, das damals noch eine eigenständige Großstadt vor den Toren Berlins war.
Obwohl die drei Kaffeehäuser viele Hunderte von Kilometern voneinander entfernt standen, pflegten die jungen Rebellen regen Kontakt miteinander, durch Briefe und gegenseitige Besuche. Und so wurden die drei Cafés Größenwahn rasch das, was heutzutage die sozialen Netzwerke in ihren besten Momenten sind: Debattenräume für kluge Gespräche, rebellische Thesen, schnelle Kommentare und auch mal für derben Meinungskampf, wobei man selbstverständlich nicht auf Gerüchte und Lästereien verzichtete.
Dass alle drei Kaffeehäuser als „Café Größenwahn“ bezeichnet wurden, ging auf eine Meldung im Wiener Satireblatt „Figaro“ vom 6. Mai 1893 zurück: Darin wurde ironisch auf all die jungen, von sich selbst überzeugten und eben auch ein wenig größenwahnsinnigen Talente im Café Griensteidl angespielt, zu denen allen voran die Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler zählten. Es dauerte nicht lang, bis man auch die beiden Kaffeehäuser in München und bei Berlin mit dem Spottnamen „Café Größenwahn“ bezeichnete. Denn dort traf sich ein sehr ähnliches Volk.
Café Griensteidl 1896 - Gemälde von Reinhold Völkel, Foto gemeinfrei
Tatsächlich gelang dem Spottnamen eine erstaunliche Karriere, er stieg gar zu einer Metapher für all die geistigen Aufbrüche um 1900 auf. Wobei es ohnehin eine Epoche war, die vor Machbarkeitsglauben und Zukunftsoptimismus nur so strotzte. Immer neue Erfindungen prägten das Leben der Menschen: von der Glühbirne übers Telefon bis zum Automobil. Alles schien immer größer zu werden: Städte, Fabriken, Bahnhöfe, Kaufhäuser und nicht zuletzt Passagierschiffe, darunter übrigens die berüchtigte „Titanic“.
So viele bis dahin feste Grenzen lösten sich vor den Augen der Zeitgenossen auf: Abenteurer stießen zum ersten Mal zu den beiden Polen im vermeintlich ewigen Eis vor, zugleich hoben erstmals Flugzeuge von der Erde ab. Selbst eine „Reise zum Mond“, so der Titel eines Filmes von 1902, hielt man nicht mehr für gänzlich ausgeschlossen.
Dass die jungen Menschen in Wien, Berlin und München zusammenkamen, war kein Zufall. Die drei Metropolen erlebten ein ungeheures Wachstum. So verdoppelte sich allein von 1875 bis 1910, also binnen einer Generation, die Bevölkerung Wiens mal eben auf nunmehr zwei Millionen Einwohner. Damit war die Donaustadt nicht nur die fünftgrößte Metropole der Welt, sondern auch ein einzigartiger kultureller Magnet im Zentrum des gigantischen Habsburgerreiches. Und wer es in Wien zu etwas gebracht hatte, der besaß ein entsprechendes Selbstbewusstsein. Kaum anders sah es in Berlin aus, wo Kaiser Wilhelm II. von einem kolonialen Weltreich fabulierte. Einzig München nahm sich nicht ernster als notwendig.
Graben in Wien, zwischen 1890 und 1905 - Urheber unbekannt, gemeinfrei
Gut zwei Jahrzehnte lang trafen sich in den drei Cafés Größenwahn junge Autoren, Schauspieler und Künstler. Viele lebten von der Hand in den Mund, aber alle glaubten fest an die Unsterblichkeit ihrer Werke. Darunter waren spätere Stars wie die Dichterin Else Lasker-Schüler, der Skandalautor Frank Wedekind oder der eigenwillige Maler Oskar Kokoschka. Bis tief in die Nacht sprachen sie über alles, was neu und am besten auch verrufen war, ob Psychoanalyse, Sozialismus oder Expressionismus. Nüchtern blieb kaum einer. Schließlich musste, wer sich als Künstler den anderen zu erkennen geben wollte, mindestens einen Absinth trinken.
Nicht zuletzt die Wiener Künstler haderten mit ihrer Metropole. Die jungen Leute fanden sie überladen und erstarrt. In den Ateliers und Werkstätten arbeiteten sie deshalb an zeitgemäßen, modernen Stilen. Während die bildenden Künstler der Vereinigung „Wiener Secession“ einen verspielten, floralen Jugendstil erfanden, propagierten andere eine schnörkellose Kunst ohne Brimborium. So sagte der Architekt Adolf Loos jeglichen Ornamenten den Kampf an. Er hielt sie für Verbrechen, schließlich würden die aufwendigen Ornamente für Handwerker armselige Löhne bedeuten. Nach seinen Prinzipien baute er direkt hinter der kaiserlichen Hofburg ein gänzlich schmuckloses Nobelgeschäft, was zu einem beispielhaften Skandal führte. Kritiker monierten, es sei ein „Haus ohne Augenbrauen“ und stelle „unanständige Nacktheit“ zur Schau. An dem Haus entzündeten sich die Gemüter, wobei Loos keineswegs der einzige Künstler war, von dessen Werk sich die älteren Wiener provoziert fühlten.
Berlin, Unter den Linden, Victoria Hotel zwischen 1890 und 1900 - Urheber unbekannt, gemeinfrei
Alles, was das gesellschaftliche Gefüge infrage stellte und für Freizügigkeit warb, rief den Protest des konservativen Bürgertums hervor. Das bezeugten auch die Skandale, die Gustav Klimt mit seinen sinnlichen Gemälden und der Schriftsteller Arthur Schnitzler mit seinen angeblich frivolen, sicher aber gewagten Theaterstücken hervorriefen.
Zwar musste das Wiener „Café Größenwahn“ bereits 1897 schließen, aber die Künstlerszene blieb beisammen und zog nur wenige Meter weiter ins Café Central in der Herrengasse. Auch dieses dürfe man sich nicht wie ein typisches Kaffeehaus vorstellen, hielt der Autor Alfred Polgar einmal fest. Es sei vielmehr „eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Gehalt es ist, die Welt nicht anzuschauen. Was sieht man schon?“ Und so folgerte er: „Seine Bewohner sind größtenteils Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“
Das traf auf keinen mehr zu als auf den Schriftsteller Peter Altenberg, dem zweifellos größten aller Kaffeehausliteraten. Über ihn hieß es treffend: Er ist immer da, und sollte er einmal nicht da sein, dann wird er gerade auf dem Weg ins Kaffeehaus sein. Viele Jahre lang gab er als Postadresse schlicht „Peter Altenberg, Café Central, Wien“ an. Dort saß er bis in die frühen Morgenstunden, unterhielt seinen Stammtisch mit launigen Schnurren und verlangte dafür von jedem Zuhörer eine nicht zu knausrige monatliche Gage. Denn Geld brauchte dieser Geschichtenerzähler immer.
Café Stefanie in Wien 1905 und Café des Westens am Kurfürstendamm in Berlin - beide Bilder: Urheber unbekannt, gemeinfrei
Derweil dröhnte Berlin immer lauter und verführerischer. Mehr als alle anderen Metropolen zog es verwegene, oft mittellose Jungkünstler an, die aus allen Teilen des Reiches herbeiströmten. Denn nirgends herrschte so viel produktiver Widerspruch wie in der Millionenstadt an der Spree. Berlin war die Metropole der Hohenzollern und der Kasernen, der Arbeiterbewegung und der Prachtmeilen, zunehmend auch der Theater, Varietés und eben der Kaffeehäuser, in denen sich die Bohemiens trafen. Was einen solchen Lebenskünstler ausmacht, brachte der Schriftsteller Rudolf Johannes Schmied auf den Punkt: „Unser Hintern fährt dritte Klasse, unser Haupt ragt über die Wolken.“
Als eines der ersten Kaffeehäuser am Ku’damm lockte das „Café Größenwahn“ avantgardistische Malerinnen aus ihren Ateliers und experimentelle Autoren aus ihren Schreibstuben. Doch zunächst schrieben dort zwei Schauspieler deutsche Kulturgeschichte: der Charakterdarsteller Max Reinhardt und der Stegreifredner Ernst von Wolzogen. 1901 entwickelten sie eine neue Art von gewitztem Theater, das sie vom Pariser Montmartre her kannten: das Kabarett. Im Nu reüssierten beide mit einer unterhaltsamen Mischung aus Balladen, Satire und Pantomime. Nur so rebellisch wie in Frankreich durften sie in Preußen nicht sein. Die Zensur wäre eingeschritten.
Zensur und politische Verfolgung trieben denn auch manch einen nach München, wo man scharfzüngig spotten durfte. Um 1905 zog etwa der Anarchist Erich Mühsam an die Isar. Weilte er einmal nicht im Schwabinger „Café Größenwahn“, dann trug er auf der Bühne der Kneipe Simplicissimus ein Spottgedicht über die Sozialdemokratie vor oder gab seine makaberen Verse über ein Bahnunglück zum Besten: „Sie brauchten gar nicht umzusteigen, / drum gab sie sich ihm stumm zu eigen, / doch da verkehrt die Weichen lagen, / fuhr man sie heim im Leichenwagen.“
Am Ende waren es nicht zuletzt die Kaffeehausliteraten, die den Untergang der alten Ordnung kommen sahen. „Wir wollen von einer Welt Abschied nehmen, bevor sie zusammenbricht“, hielt etwa der gefühlige Dramatiker Hugo von Hofmannsthal fest. Dabei stimmte ihm sogar sein größter Kritiker zu: Der Satiriker Karl Kraus sah das alte Österreich als „Versuchsstation des Weltuntergangs“. Wie sehr beide recht hatten, darüber sollten sie im Ersten Weltkrieg selbst erschrecken.
Nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf