
Alternovum Ausgabe 1/2025
Fünf Fragen an Julia Gruber
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Volker Kiehn
Im KWA Parkstift St. Ulrich lebt ein echter Weltenbummler. Sein Name: Volker Kiehn. Hier erzählen wir seine Geschichte.

Bad Krozingen, 17. Juli 2025
Bad Krozingen, KWA Parkstift St. Ulrich, auf der Dachterrasse von Wohnung 512: Hier reicht der Blick bis in die Vogesen. Und von hier aus gehen wir auf Lebens- und Weltreise. Unser Reiseführer ist Volker Kiehn. Der 83-Jährige ist ein charmanter, eloquenter Erzähler mit hellwachen Augen. Besondere Kennzeichen: eine Beinprothese links. Und bevor wir mit ihm nach Mexiko, Hawaii oder Brasilien aufbrechen, begeben wir uns an den Beginn seiner Lebensreise, nach Erfurt. In der Stadt an der Gera wächst Volker Kiehn auf. Geboren wurde er 1942 zwar in Essen, doch sein Vater wird als Polizist zwei Jahre später in die Garnisonsstadt Erfurt versetzt, ein offenbar kritischer Geist: „1953 gehörte mein Vater zu den Rädelsführern des Aufstands in der damaligen DDR. Das brachte ihm zwei Jahre Gefängnis ein. Jahre später ist er über die grüne Grenze in den Westen geflüchtet“, erzählt Kiehn. Er selbst reist als Jugendlicher in den Büchern seines Lieblingsschriftstellers Karl May nach Nord- und Südamerika, nach Afrika und in den Orient. Und er arbeitet an einer Karriere als Springreiter.
Doch bevor er in den ersten Turnieren sein Talent zeigen darf, passiert es: Kurz nachdem er sein Pferd gestriegelt hat und die Box verlassen will, schlägt das Pferd aus und trifft den 16-Jährigen am linken Bein. In der Folge muss Kiehn zwölf Operationen über sich ergehen lassen, liegt monatelang in Krankenhäusern. Doch am Ende ist das Bein nicht mehr zu retten. Der Oberschenkel muss amputiert werden. An einem derartigen Schicksalsschlag könnte ein junger Mensch verzweifeln. Nicht so Volker Kiehn. „Nach vorne gucken wurde früh mein Lebensmotto“, sagt er. Mit Gehhilfen geht es täglich zur Lehre beim Uhrmacher. Noch als Lehrling beginnt er zu reisen. Eine der ersten Touren führt ihn in die Gebirgslandschaft der Hohen Tatra in der damaligen Tschechoslowakei, weitere nach Bulgarien und Ungarn. 1968 heiratet er seine Freundin Christa und eröffnet gemeinsam mit ihr ein Uhrmachergeschäft in Auerbach im Vogtland.
Volker Kiehn
Noch als Lehrling beginnt er zu reisen. Eine der ersten Touren führt ihn in die Gebirgslandschaft der Hohen Tatra in der damaligen Tschechoslowakei, weitere nach Bulgarien und Ungarn. 1968 heiratet er seine Freundin Christa und eröffnet gemeinsam mit ihr ein Uhrmachergeschäft in Auerbach im Vogtland.
1970 wird der gemeinsame Sohn Uwe geboren. Zwei Jahre später bekommt er eine alleinige und zeitlich begrenzte Ausreisegenehmigung, um bei der Hochzeit seiner Mutter dabei zu sein – sie war 1974 zu ihrer Mutter in den Westen gezogen. Im Westen geht er auch in mehrere Juweliergeschäfte, und in ihm wächst die Idee, sich dort als „Heimuhrmacher“, der Uhren aller Art repariert und wartet, niederzulassen. Doch zunächst geht er zurück in die DDR, zu Frau und Sohn. Ein halbes Jahr später ist gemeinsam eine Entscheidung getroffen: Die junge Familie will sich im Westen eine neue Existenz aufbauen und stellt den Ausreiseantrag. 21 weitere werden in den nächsten zweieinhalb Jahren folgen, verbunden mit zahlreichen Schikanen durch Stasi-Mitarbeiter. Doch die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. 1975 erhält Familie Kiehn die Ausreisepapiere.
Ihr Weg führt sie ins oberbayerische Waldkraiburg, wo auch Kiehns Mutter lebt. Dort eröffnen sie in der Wohnung der Mutter ihr erstes Geschäft. Doch die damals aufkommende Quarztechnik für die Uhren verändert schnell den Markt, und mechanische Reparaturen werden seltener nachgefragt. Auch der erweiterte Handel mit Schmuck läuft nicht so, wie erwartet. „In dieser Zeit kamen schon Zweifel auf, ob es richtig war, die gesicherte Existenz in der DDR aufzugeben.“ Wenig später erhält er die Möglichkeit, im schwäbischen Backnang ein Uhren und Juweliergeschäft zu übernehmen – und greift zu, trotz geringer finanzieller Eigenmittel.
Die Familie beißt sich durch. Und Volker Kiehn reaktiviert seine sportliche Seite. In den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren ist er stark im Behindertensport aktiv, leitet 17 Jahre eine Behindertensportgruppe und wird zweiter Vorsitzender im Württembergischen Versehrtensportverband. Er spielt leidenschaftlich gerne Sitzball und wird Deutscher Ü-60-Meister im Standweitsprung, Kugelstoßen und Speerwurf. Er engagiert sich im Schützenverein, Schachverein und einem Pool-Billard-Club. „Ich habe Billard für Behinderte in Deutschland ins Leben gerufen. Einmal ist es mir sogar gelungen, 65 behinderte Billardspieler aus ganz Europa zu zwei Turnieren nach Backnang zu holen“, berichtet er.
1995 übernehmen er und seine Frau in Weil am Rhein ein Uhrengeschäft und betreiben es trotz aller widrigen Umstände, die sich nach dem Kauf offenbaren, fast zehn Jahre lang. Es folgen berufliche Stationen in Neuenburg am Rhein und mit bereits Ende 60 eine letzte Geschäftsneugründung in Kandern. Als Volker Kiehn 2014 zwei Schlaganfälle hat, beschließen seine Frau und er, ihr Geschäft aufzugeben. Von da an ist das Paar jährlich mehrfach gemeinsam auf Reisen: auf der legendären Route 66 durch die USA ebenso wie nach Hawaii. „Ich hatte mir auf Big Island einen Jeep gemietet, weil ich unbedingt über Lava fahren wollte. Neue Naturerlebnisse und einzigartige Landschaften – das hat mich immer schon auf meinen Reisen fasziniert. Und Lava ist so besonders, weil sie die rohe Kraft der Natur und den Kreislauf von Zerstörung und Neuschöpfung verkörpert. Sie kann ganze Landschaften verändern. Für meine Frau, die immer an meiner Seite war, war das Thema zunächst tabu. Dann hat sie sich doch getraut, ist über ein erkaltetes Lava-Feld gelaufen – und war begeistert. Als wir dort waren, ist der Vulkan Kilauea erneut ausgebrochen. Nachts haben wir den Feuerschein gesehen und uns sofort ins Auto gesetzt. In einem angrenzenden Waldstück habe ich dann meine Drohne steigen lassen und konnte tatsächlich fließende glühend heiße Lava filmen.“
Landschaften, Architektur und Szenen zu filmen, und alles dann tage- und oft wochenlang in Bad Krozingen zu schneiden und zu vertonen, ist zur Leidenschaft für Volker Kiehn geworden. Mittlerweile hat er so mehrere Dutzend Filme zusammengestellt und hält Vorträge zu seinen Reisen. Mit dem badischen Oldtimer-Club war er in Namibia, hat die Maja- Pyramide des Kukulkan auf der Halbinsel Yucatan besichtigt, fuhr mit dem Bus ans Nordkap und mit dem Auto durch Peru. Dort ist er zweimal ausgeraubt worden – und nahm es mit Gelassenheit.
Volker Kiehn
Seit dem Tod seiner Frau vor zweieinhalb Jahren ist Volker Kiehn allein unterwegs. Einer der letzten Ausflüge war eine Weltreise: von Bangkok nach Sydney über Neuseeland, Fidschi, Samoa und Tonga, die Osterinsel, Santiago de Chile, Peru, Lima und Cusco. Von da nach Panama, Miami und Jamaica, Barbados und nach London. Auf den Stationen Neues auszuprobieren und sich neue Perspektiven zu eröffnen, gehört für Volker Kiehn dazu. Und es darf als mutig bezeichnet werden, wenn ein Mann mit einer Beinprothese sich mit einem Gleitschirm vom Corcovado – der Berg mit der Christusstatue am Rande Rio de Janeiros – gemeinsam mit einem Gleitschirmpilot in die Tiefe stürzt. „Wir mussten zunächst eine schräge Rampe nach unten laufen. Und am Ende der Rampe hatte der Gleitschirmpilot den Schirm immer noch nicht in den Griff gekriegt. Da dachte ich: Jetzt ist es vorbei, jetzt stürzt du hier ab“, erzählt Kiehn. Es ging dann doch alles gut.
Als den für ihn schönsten Ort der Welt nennt er das Taj Mahal in Indien, „wegen seiner fantastischen Architektur und Geschichte“. Von den USA kann er nicht genug bekommen. Gerade ist er zurück von einem vierwöchigen Trip. Seine Reiselust ist ungebrochen.
Gerne würde er noch nach Indonesien reisen, in die Nähe eines Vulkans. „Auch die Orang-Utans auf Borneo würde ich gerne sehen. Aber da muss man durch den Urwald laufen. Doch das schaffe ich nicht mehr mit einem Bein“, sagt er. Und in seiner Stimme ist nicht der Hauch von Wehmut.
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